Stadtplan Leverkusen


"Paradigmenwechsel im Umweltschutz der Chemischen Industrie"

Festkolloquium: "Fortschritt und Verantwortung - 100 Jahre Umweltschutz bei Bayer"
Aus den Ausführungen von Prof. Dr. Herwig Hulpke, Leiter des Konzernstabes Qualitäts-, Umwelt- und Sicherheitspolitik der Bayer AG


Die Auffassung, wie eine moderne Gesellschaft mit der Natur umzugehen hat und sich ihren Nutzen erschließt, hat sich in den letzten einhundert Jahren grundlegend gewandelt.

Die Entwicklung und der Aufbau einer modernen Industrielandschaft waren um 1900 auch hier im Rheinland im vollen Gange.

Tief greifende Infrastrukturmaßnahmen wurden aufgelegt, um die Prosperität einer Region zu sichern und ihre Vernetzung mit anderen Industriegebieten in Deutschland aufzubauen.

Die Natur erschien als eine Ressource, die man praktisch grenzenlos nutzen und ausbeuten konnte, ohne ihr erkennbar irreparablen Schaden zuzufügen.

Dies aber nur deshalb, weil die Nutzungsansprüche der Bevölkerung nicht mit unseren heutigen Maßstäben zu vergleichen waren. Im Gegenteil: Flächen- und Raumnutzung waren durchaus erwünscht und wurden gefördert, denn dieser Pioniergeist ermöglichte erst den wachsenden Wohlstand breiterer Bevölkerungsschichten. Nicht umsonst ist diese Zeit in den Geschichtsbüchern als "Gründerzeit" eingegangen.

Seitdem haben sich unsere Ansichten und Einstellungen erheblich gewandelt. Vielschichtige gesellschaftliche und politische Wandlungen im zwanzigsten Jahrhundert haben diesen Veränderungen starken Vorschub geleistet.

Auf einige wenige möchte ich heute beispielhaft eingehen, denn mit ihnen haben sich auch Paradigmen, also Muster, nach denen wir unsere Erfahrungen vergleichen und beurteilen, verändert.

Gerade auch am Begriff "Umweltschutz" lässt sich dieser Wandel beispielhaft nachvollziehen und spiegeln.

Was verstehen wir eigentlich unter dem Begriff "Umwelt"?
Johann Wolfgang von Goethe schrieb 1821 an seinen Sohn August von einer Reise ins Böhmische: "Nächste Woche ist Jahrmarkt, worauf ich mich freue, weil man die Produkte der ganzen Umwelt kennen lernt." Womit er das bunte Treiben und Leben der Einwohner gemeint haben wird. Goethe hat den neuen Begriff "Umwelt" mehrfach im sozialen Sinne genutzt und damit entscheidend zur Verbreitung des neuen Wortes beigetragen.

Anfang des neunzehnten Jahrhunderts tauchte der Begriff immer häufiger in der Literatur auf. Und dies ist sicher kein Zufall, sondern vielmehr Ausdruck einer wachsenden Individualität des Einzelnen gegenüber der Gemeinschaft, in der er lebt und in der er seine Freiräume ? seine nur durch ihn bestimmte "Umwelt" ? sucht.

Trotzdem bleibt erstaunlich, wie ausgerechnet aus der dichterischen Metapher "Umwelt" nicht nur eine zentrale Kategorie der modernen Ökologie geworden ist, sondern auch, wie der Begriff "Umwelt" in den letzten drei Jahrzehnten den wesentlich älteren und umfassenderen Begriff "Natur" verdrängt hat.

Aber der Begriff hat, wie wir alle wissen, im Laufe der Zeit auch Erweiterungen erfahren von einem überwiegend naturwissenschaftlichen zu einem soziologischen Sinne: Umwelt wird hier als die gesamte Umgebung eines Menschen einschließlich seiner Mitmenschen und aller sozialen, kulturellen und politischen Einrichtungen und Einflüsse begriffen.

Und damit habe ich in etwa den Spannungsbogen skizziert, in dem wir uns bewegen und in dem wir gestern beziehungsweise heute für unsere Umwelt und ihren Schutz arbeiten. Dieser Spannungsbogen hat naturgemäß Konflikte, wovon der lange ? bis in die heutigen Tage diskutierte ? Konflikt von Ökologie und Ökonomie ein Zeugnis ablegt.
Ökologie und Ökonomie sind Kunstworte mit gleicher griechischer Wortwurzel: "OIKOS" heißt "Haus", aber auch "Haushalten". Es sind also die Prozesse des Haushaltens des Menschen einerseits und der Natur andererseits gemeint.

Diese beiden Haushalts-Systeme müssen in einen Abgleich gebracht werden. Dies ist auch heute der moderne und aktuelle Ansatz für Umweltschutz.

Im Laufe seiner Entwicklung wurden immer wieder von verschiedenen Akteuren überholte Dogmen ausgeräumt und an ihrer Stelle neue Erkenntnisse und Ansichten implementiert.

So hatte die am 5. November 1901 konstituierte "Abwasser-Commission der Farbenfabriken zu Leverkusen" zunächst einmal nur die Aufgabe, Daten zur Abwasser-Einleitung in den Rhein zu sammeln. Bis dahin waren die genauen Einleitewerte nicht bekannt. Die heute simplen Fragen waren damals:

War der Rhein überhaupt in der Lage, die Frachten, insbesondere die Säurerückstände aus der Farbenproduktion, aufzunehmen, das heißt ausreichend zu verdünnen? Und was geschah mit nicht gelösten Sinkstoffen? Lösen diese sich im Rhein mit der Zeit unschädlich auf? Und wie effektiv wurden die gefärbten Abwässer verdünnt, so dass man sie schon bald nach der Einleitung nicht mehr vom Flusswasser unterscheiden konnte?

All diese Fragen mögen uns heute als ziemlich naiv erscheinen, so dass man darüber schmunzeln kann ? aber damals waren sie durchaus der Beginn eines sich ändernden Verständnisses für unsere Umwelt. Sie haben damit den ersten Impuls für den Umweltschutz gesetzt, der uns über viele Jahre nach und nach auf das uns heute vertraute Niveau gehoben hat. Sie haben ein anderes Bewusstsein, ein neues Verantwortungsgefühl geschaffen, dem wir heute seit vielen Jahren verpflichtet sind.

Unsere heutige Sichtweise ist aber sicherlich auch stark von Ereignissen geprägt worden, die nun schon über drei Jahrzehnte zurückliegen. Erinnern wir uns an den Beginn der Umweltkrisendiskussion im Jahre 1962, als in den Vereinigten Staaten Rachel Carsons Buch "Stummer Frühling" erschien.

Dieses Buch berichtete über die gravierenden Wirkungen der damals verwendeten, stark persistenten Pestizide im Pflanzenschutz.
Damit wurde eine neue Dimension offenbar, die bislang nicht im Bewusstsein der Öffentlichkeit war: dass es Umweltschäden gibt, die auf eine sinnlich nicht wahrnehmbare und daher unmerkliche Weise um sich greifen können. Damit stand ebenso das Postulat in Frage, der Mensch könne die Natur beherrschen und ihre Kräfte kalkulieren.

Unsere heutigen Fragen um die vermeintliche Wirkung von Treibhausgasen und zur Ozonschichtzerstörung schließen sich in diesem Sinne an damalige Diskussionen über die Gefährdung natürlicher Lebensgrundlagen an.

Zum zweiten hat die Energiekrise von 1972 ganz sicher Grenzen des Wachstums aufgezeigt und den häufig allzu simpel verstandenen Fetisch Fortschritt in ein kritischeres Licht gestellt. Fortschritt ja, aber eben nicht um jeden Preis, Fortschritt eben nicht im Sinne eines technischen Machbarkeitswahns, nicht unreflektiert und auf Kosten sozialer Strukturen, der Zerstörung der Natur und dem Verlust wertvoller Tier- und Pflanzenarten.

Und in diesem Sinne ist heute moderner Umweltschutz zu verstehen und zu praktizieren: Dieser soll nicht nur Ressourcen schonend produzieren, natürliche Rückzugsgebiete für Tiere und Pflanzen erhalten oder die Ernährungsgrundlagen in unserer Kulturlandschaft sichern, sondern darüber hinaus effektive Technologien entwickeln und sie in unseren Standorten implementieren. Heute gestalten wir unsere Produktion so umweltschonend wie möglich und bemühen uns, sie kontinuierlich zu verbessern. Wir müssen uns aber auch den neuen Herausforderungen für die Zukunft stellen:

Mehr in aller Munde als in den Köpfen ist heute die Nachhaltigkeits-Debatte.

Nachhaltig zu wirtschaften und als nachhaltig zu bewertende Produkte am Markt anzubieten ist eine der großen Leitideen des beginnenden einundzwanzigsten Jahrhunderts.

Dabei sehe ich durchaus die Gefahr, dass dieser sehr positive Ansatz als Mode zerredet wird und gemeinsame Zielsetzungen an Wirkung verlieren könnten, wenn nicht bald konkrete Maßnahmen erfolgen.

Sustainability ist sicherlich ? wenn auch begrenzt ? geeignet, den in der öffentlichen Meinung stark in der Bedeutung gesunkenen Begriff "Umweltschutz" wieder neu zu beleben.

Sustainability ist eine Realutopie, sie ist ein Leitbild und eine Gestaltungsidee, die für uns alle zunächst einmal unbequem ist. Denn sie verlangt von uns eine lang andauernde Verantwortung, der man sich in der heutigen Zeit mit den oftmals kurzen Planungshorizonten gerne entzieht. Auch die in reichen Industrieländern häufige Einstellung, vom "warmen Wohnzimmer" aus die fundamentalen Probleme unser Weltwirtschaft und ihrer sozialen Folgen für Schwellenländer beurteilen oder lösen zu wollen, wird nach diesem Leitbild nicht länger akzeptiert werden können.

Im Zeichen einer weiter fortschreitenden engen Vernetzung leistungsfähiger Wirtschaftsräume müssen wir umso mehr auch ein Augenmerk auf die Folgen dieser Leistungsfähigkeit werfen. Die Folgen der Globalisierung zu begleiten und ? wo notwendig ? abzufedern wird in Zukunft nicht nur für Regierungen, sondern auch für weltweit tätige Unternehmen eine sehr wichtige Aufgabe sein, wollen sie nicht ihr positives Image gefährden.

Mit dem Fall der alten Machtblöcke scheint der Ost/West-Konflikt überwunden worden zu sein. In den neunziger Jahren hat das System der Marktwirtschaft daher einen forcierten Siegeszug um den Erdball weitgehend ungehindert fortsetzen können. Dadurch haben aber auch nationale Grenzen und Bestimmungen an Bedeutung verloren. Viele internationale Unternehmen haben diese Chancen intensiv genutzt.

Dem Verlust staatlicher Einflussmöglichkeiten liefen Bestrebungen zur Stärkung der internationalen Zivilgesellschaft entgegen. Heute wird verstärkt nach Mitsprache verlangt. Dieser basis-demokratische Ansatz für einen Prozess durch Konsultation und Einbindung von Anspruchsgruppen ? den sogenannten Stakeholdern ? ist ein wesentlicher Impuls der sich entwickelnden Rahmenbedingungen in einer immer kosmopolitischer denkenden Gesellschaft. Dass dies ein konfliktreicher Lernprozess ist, haben auch Unternehmen erfahren müssen.

Doch blicken wir noch einmal zurück:
Erinnern wir uns an die umweltpolitischen Diskussionen zur Dünnsäureverklappung in die Nordsee. Bayer hatte in den fünfziger Jahren seine schwefelsäurehaltigen Rückstände in den Rhein abgeleitet. Diese entstammten nicht der Titandioxid-Produktion in Uerdingen, sondern Verfahren zur Herstellung organischer Farbstoffe und Zwischenprodukte. In Uerdingen war von Anfang an ein Aufarbeitungsverfahren zum Einsatz gekommen, das Bayer schon 1958 entwickelt hatte. Ab 1964 begannen dann europäische Titandioxidhersteller mit der Verklappung ihrer Dünnsäure in die Nordsee. Zu dieser Zeit wurde dieses so genannte Dumping-Verfahren durchaus als ökologischer Fortschritt angesehen! Spezialschiffe transportierten dabei die Dünnsäure in behördlich zugewiesene Seegebiete und leiteten sie über die Schiffsschraube ins Meer. Auch wir bei Bayer verklappten ab 1968 in die Nordsee. Bayer stellte das Dumping 1982 jedoch endgültig ein, nachdem nach langwierigen technischen Vorarbeiten eine Recycling-Alternative möglich geworden war.

Der Weg dahin war in der Öffentlichkeit von sehr lautstarken und schrillen Tönen und heftigen Protesten begleitet. Daraus entstand dann der Eindruck, dass dieser Protest ? und nur dieser allein ? die technische Realisierung bewirkt habe, was natürlich nicht zutreffend ist.

Aber auch Gipfeltreffen von Regierungen zu Wirtschaftsforen wurden in den letzten Jahren von Protesten und Ausschreitungen begleitet, wie etwa in Seattle, Göteborg oder Genua. Und auch hier darf man nicht träumen, dass der Protest dann auch den notwendigen Wandel bewirkt.

Dabei steht immer wieder inhaltlich die Forderung im Raum, die ökologische und soziale Dimension mit grundlegend veränderten wirtschaftlichen Rahmenbedingungen zu verknüpfen und anzugleichen.

Mit Hilfe eines Netzwerkes international operierender Unternehmen sollen diese Belange nun mehr Beachtung erfahren als bislang. Die Idee eines "Global Compact" ? eines "Globalen Pakts" ? wurde erstmals im Januar 1999 von Kofi Annan im Rahmen des Weltwirtschaftsforums in Davos präsentiert. Dieser "Globale Pakt" ist eine Art "Gesellschaftsvertrag" zwischen internationalen Unternehmen und den Vereinten Nationen. Bayer ist einer der ersten rund 50 global player, die sich dieser UN-Initiative angeschlossen und sich damit zur Einhaltung von Menschenrechten, Arbeitsnormen und dem Schutz der Umwelt verpflichtet haben.

Damit tritt die Privatwirtschaft immer mehr als wichtige Größe zur Lösung globaler Probleme in Erscheinung, da sie über gut organisierte internationale interne wie externe Netzwerke verfügt. Damit wird sie aber gleichermaßen mit den Ansprüchen und Erwartungen einer internationalen Öffentlichkeit konfrontiert.

Viele Unternehmen stehen vor der Herausforderung, ihre Kommunikationsstrategien dieser veränderten Situation anzupassen. Gleichzeitig nehmen sie diese Herausforderung an.

Zum Beispiel engagieren sich die Mitglieder des World Business Council for Sustainable Development (WBSCD) mit öffentlichen Partnern und Nicht-Regierungsorganisationen (NGOs) auf der ganzen Welt. Sie versuchen, andere Perspektiven zu verstehen und im Dialog realistische Erwartungen von unrealistischen zu trennen. Es ist die Suche nach einem breiten Konsens für ein Optimum an ökonomischer, gesellschaftlicher und ökologischer Wertschöpfung von Produkten und Dienstleistungen.

Mit dieser Motivation haben wir im letzten Jahr der Öffentlichkeit unseren Bayer-Ökocheck im Rahmen der Bayer-Ökoperspektive 2000 präsentiert. Wir haben erkannt, dass der Erfolg unserer Produkte langfristig von diesen erweiterten Qualitätskriterien geprägt sein wird.

Die Optimierung unserer Produkte steht daher im Mittelpunkt unserer Aufmerksamkeit.

Wir prüfen und bewerten unsere strategisch bedeutenden Produkte umfassend hinsichtlich all derjenigen Kriterien, die für den Erfolg am Markt und aus Vorsorgeerwägungen von Bedeutung sind. Wir erweitern dabei unseren Beurteilungskatalog um einen neuen benchmark: Wir nennen diesen "public value".

Darunter verstehen wir die Beurteilung unserer Produkte und Dienstleitungen durch außenstehende Dritte als ein äquivalentes Kriterium im Kontext unserer bewährten Methoden. Wir wollen die Akzeptanz unserer Produkte in diesem Meinungsbildungsprozess sicherstellen. Denn wir wollen in allen Regionen der Welt mit ihren vielschichtigen kulturellen, rechtlichen und konsumtiven Facetten erfolgreich sein. Das können wir aber langfristig nur, wenn wir diese Unterschiede auch entsprechend berücksichtigen.

Zahlreiche spektakuläre Weltereignisse führen uns heute deutlich vor Augen, wie rasch Informationen jeden Winkel der Erde erreichen und damit auch Realitäten schaffen.

Im Fokus steht oftmals nicht mehr die nüchterne Information, sondern die Interpretation der Medien.

Unternehmenswerte an internationalen Börsen unterliegen dabei einer besonderen Sensibilität: Durch die computergestützte Vernetzung der Handelsplätze können sie binnen Minuten einbrechen oder steigen. Darüber hinaus lösen spektakuläre Szenarien oftmals internationale Stimmungswechsel aus und ihre Wirkungen können für einen längeren Zeitabschnitt das Investitionsklima in wichtigen Wirtschaftszonen prägen.

Außerdem verändert das Internet etablierte Relationen: Heute können sich Interessensgruppen weltweit und "live" zusammenschließen und ihre Anliegen und Informationen austauschen. Sie haben in dieser Hinsicht mit den technischen Möglichkeiten eines international ausgerichteten Großunternehmens gleichgezogen.

Unternehmen werden unter diesem Gesichtspunkt im steigenden Maße beobachtet, kontrolliert und auch nicht selten unfairen Angriffen ausgesetzt. Vielen Kampagnen kann nicht mit gleicher Macht begegnet werden.

Der erste Eindruck entfaltet eine Eigendynamik und Verstärkerwirkung, wie sie modernen Medien eigentypisch ist und der nur sehr schwer etwas entgegenzusetzen ist.

In diesem Prozess ist es von ausschlaggebender Bedeutung, die emotionalen Aspekte einer Kampagne ins Kalkül zu ziehen: Menschen entwickeln zwiespältige Gefühle gegenüber Organisationen, die sie als mächtig, unnahbar oder undemokratisch empfinden.

Diese Erkenntnis ist einer der Gründe, warum wir bei Bayer so aktiv die weltweite Initiative "Responsible Care" der chemischen Industrie nun schon seit 1991 unterstützen und mitgestalten. Wir wollen dabei nicht nur die Gesundheits-, Sicherheits- und Umweltsituation in unseren Betrieben kontinuierlich verbessern, um schlimme Unfälle in der chemischen Industrie ? ich nenne hier nur als Stichwort "Bhopal 1984" ? in unseren eigenen Werken ganz zu vermeiden oder die Folgen zu minimieren. Diese Ziele sind und bleiben zweifellos wichtig.

Aber mein Augenmerk gilt heute vor allem auch dem Aspekt "Dialog", dem wir uns im Rahmen dieser Initiative verschrieben haben. Wir nehmen zwiespältige Gefühle, Vorbehalte und Ängste von Dritten, seien es Laien oder Fachleute, als Fakten ernst, selbst dann, wenn wir inhaltlich vielleicht anderer Meinung sein sollten.

In der Bevölkerung moderner Industrieländer ist in den letzten Jahrzehnten ein wachsendes Verlangen nach Sicherheit und ? damit verbunden ? eine abnehmende Risikobereitschaft zu beobachten: eine Reaktion darauf, dass sich Menschen in hoch entwickelten Gesellschaften zunehmend Risiken ausgesetzt sehen, die durch das moderne, technikbestimmte Leben entstehen. Das Verlangen nach einem sicheren Leben schließt zwangsläufig Maßnahmen zur Reduzierung von Risiken ein. Die Forderung nach der absoluten Sicherheit, dem Nullrisiko, ist ebenso unrealistisch wie die Annahme, dass Risiken durch genügend aufwändige Minderungsmaßnahmen auf null gebracht werden können. Auch ein völliger Verzicht auf den Nutzen einer Sache ist kritisch zu sehen, da er möglicherweise neue Risiken nach sich zieht.

Eine Analyse gerade auch jüngster gesellschaftlicher Gegebenheiten in Deutschland wirft die Frage auf, inwiefern die bundesdeutsche Gesellschaft heute bereit ist, flexibel auf neue Szenarios im Weltgeschehen zu reagieren und kreativ auf mögliche Beeinträchtigungen, Verluste oder Gefahren zu antworten.
Durch unseren hohen Lebensstandard sind wir verwöhnt, in den neuen Bundesländern hört man das drastische Wort "luxus-versaut".
Diese Entwicklung ist nicht neu, sondern vielmehr ein gewachsener Prozess. Eine diffuse, emotional abwehrende Grundeinstellung zu Wissenschaft und Technik ist ein vorherrschendes Element dieses Selbstverständnisses:
Alles, was nicht für jedermann und unmittelbaren Nutzen bringt, wird mit Skepsis verfolgt. Dies umso mehr, als die moderne Technik meist sehr erklärungsbedürftig ist und damit den meisten unverständlich bleibt, wenn nur undifferenziert diskutiert wird ? zum Beispiel die Gentechnologie.
Neben empfundener Ohnmacht ist in der Gesellschaft auch Unbehagen darüber verbreitet, dass die Probleme ? in vielen Schwellenländern trotz jahrzehntelanger Entwicklungshilfe und allen technischen Fortschritten ? auch im Umweltschutz ? keineswegs geringer geworden sind. Im Gegenteil: Klimaschutz, Erhaltung der Artenvielfalt, Armutsbekämpfung, Ernährung, Gesundheit und Bildung sind nur eine Auswahl letztlich gesellschaftlicher Aspekte, welche auf eine umfassende Lösung warten.

In diesem Diskussionsklima gedeihen Erwartungen gegenüber Unternehmen, sich als verantwortungsbewusste Mitglieder der Gesellschaft ? als good corporate citizen ? zu profilieren.

Diesen ethischen Grundsätzen zu entsprechen ist Basis unseres Selbstverständnisses als international operierendes Unternehmen.
So haben wir beispielsweise in enger Zusammenarbeit mit der Weltgesundheitsorganisation ? der WHO ? unsere lange bewährten Medikamente Germanin" und Lampit" für die Dauer von zunächst fünf Jahren unentgeltlich zur Verfügung gestellt, um die wieder aufkeimende Schlafkrankheit im tropischen Afrika wirksam bekämpfen zu können.

Diese Infektion verläuft in der Regel tödlich. Sie wird durch den harmlos empfundenen Stich der Tsetsefliege übertragen. In den Bürgerkriegsregionen Afrikas ist insbesondere in den letzten Jahren aber ein erneuter dramatischer Anstieg der Schlafkrankheit zu verzeichnen. Die WHO schätzt, dass in Zentralafrika 300.000 bis 500.000 Menschen mit dem Erreger infiziert sind, und geht von einer steigenden Tendenz aus. So gibt es bereits Länder, in denen wieder mehr Menschen an der Schlafkrankheit als an AIDS sterben.

Auf dieses Thema gehen wir auch im Rahmen unserer Sonderausstellung "100 Jahre Umweltschutz bei Bayer ? Fortschritt und Verantwortung" ein, auf die ich Sie hier kurz hinweisen möchte. Die Ausstellung ist im Foyer unseres Kommunikationszentrums aufgestellt.

Vor diesem Hintergrund ist es offenkundig, dass ein Unternehmen in einem andauernden Prozess berechtigte Interessen gegeneinander abzuwägen hat:

Insbesondere sind die Wünsche seiner Aktionäre an Gewinnbeteiligung und Unternehmenswertsteigerung an den Interessen anderer Anspruchsgruppen zu spiegeln. Unterlässt es hingegen diese Abwägung, riskiert es nicht nur seinen Ruf, sondern darüber hinaus auch seine gesellschaftliche Akzeptanz ? seine Licence to operate.

Die Erhaltung der ökonomischen Wettbewerbsfähigkeit allein reicht deshalb heute nicht mehr aus:

Unternehmen müssen sich auf eine ganz neue Art und Weise auf ihre wichtigen Anspruchsgruppen einlassen, wollen sie diese langfristig als unterstützende Partner gewinnen.

Daher bin ich davon überzeugt, dass das Schlagwort "Stakeholder Engagement" in den nächsten Jahren an Bedeutung gewinnen wird. Es verkörpert aus meiner Sicht eine andere Qualität des Dialogs, der auf gegenseitiger Toleranz basiert und abseits apodiktischer Verhaltensmuster verläuft.

Das wäre für mich ein neues Paradigma des gesellschaftlichen Umgangs. Halten wir es mit Joseph Joubert (1754 ? 1824), dem französischen Moralisten und Zeitgenossen Goethes: "Nicht Sieg sollte der Sinn der Diskussion sein, sondern Gewinn."

Quelle: Pressemitteilung der Bayer AG vom 28.11.2001
"Fortschritt und Verantwortung - 100 Jahre Umweltschutz bei Bayer"
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Letzte Änderungen: 01.12.2001