Gedenkveranstaltung anlässlich des 20. Jahrestages des Brandanschlages in Solingen


Archivmeldung aus dem Jahr 2013
Veröffentlicht: 29.05.2013 // Quelle: Stadtverwaltung

Oberbürgermeister Reinhard Buchhorn hielt soeben auf dem Rathausvorplatz folgende Rede:

Sehr geehrter Herr Nyantakyi,
sehr geehrte Frau Pohlmann, sehr geehrter Herr Loerken, sehr geehrter Herr Dzeladini, sehr geehrter Herr Akdemir,
sehr geehrter Herr Polizeipräsident Albers,
sehr geehrte Damen und Herren aus Politik und Verwaltung,
liebe Bürgerinnen und Bürger,

der 29. Mai 1993 begann auch in Solingen zunächst als ein Tag wie jeder andere. Ein Tag, an dem nichts darauf hindeutete, dass nicht nur in Solingen danach nichts mehr so sein sollte, wie es einmal war. Ein furchtbarer Tag und wir sind hier heute zusammen gekommen, um gemeinsam der Opfer dieses 29. Mai 1993 zu gedenken.

Am 29. Mai 1993 wurde das Haus der türkischen Familie Genc in Solingen bei einem Brandanschlag zerstört. Vier junge Deutsche hatten es aus Ausländerhass angezündet. Drei türkische Kinder und zwei junge Frauen, ebenfalls Türkinnen, starben in den Flammen. Die Tat war der, heute muss man leider sagen, scheinbare Gipfel einer Welle rechtsextremer Gewalt, die man zuvor auch mit Hoyerswerda, Rostock, Mölln und andere Orten in Deutschland in Verbindung gebracht hat.

Spätestens an diesem Tag war in der Bundesrepublik Deutschland jedem klar geworden, dass Ausländerhass, rechtsextreme Gewalt und Neonazismus kein regionales Phänomen und keine Spätfolge des DDR-Sozialismus war, wie manche Zeitgenossen es gerne geglaubt hätten. Spätestens mit dieser kriminellen Gewalttat war der braune Terror in der gesamten Bundesrepublik angekommen.

Niemand konnte damals ahnen, dass die schrecklichen Ereignisse dieses Tages in Solingen erst der Anfang eine Kette grausamster Taten war. Sie machen uns durch die damit verbundenen Grausamkeiten und menschlichen Tragödien bis heute fassungslos und angesichts ihrer Sinnlosigkeit auch wütend. Niemals dürfen und werden sie uns aber sprachlos machen.

In einem Land, dass sich Chancengerechtigkeit und Gastfreundlichkeit auf die Fahnen geschrieben hat, das stets zu Toleranz und Mitmenschlichkeit aufruft, Rassismus und Antisemitismus zutiefst verurteilt, werden unschuldige Menschen, die hier als Zuwanderer eine neue Heimat gesucht haben, plötzlich Opfer blinder und menschenverachtender rechter Gewalt.

Das Schicksal der Familie Genc haben viele Menschen seit damals als zusätzliche Herausforderung angesehen, ohne Wenn und Aber gegen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit zu kämpfen. Nun wissen wir trotz allem Engagement, dass die Taten von damals nicht der grausame Einzelfall junger und verirrter Neonazis war. Leider - und dies wird uns gerade in diesen Tagen regelmäßig vor Augen geführt - hat es mit den feigen und hinterhältigen Morden des NSU-Terrors eine widerliche Fortsetzung gefunden. Acht türkischstämmige Bürger, ein Grieche, eine deutsche Polizistin und zahlreiche Verletzte sind die bisher bekannte Bilanz dieses rechten Terrors, der gerade vor Gericht aufgearbeitet wird. Hier wird uns wieder einmal vor Augen geführt, wie wachsam wir überall, auch 20 Jahre nach Solingen, sein müssen.

Die Größe der Überlebenden von Solingen, die trotz furchtbarsten Erlebens nicht nach Rache gerufen haben, sondern sich aktiv für eine friedliche Zukunft in einem freiheitlichen Land eingesetzt haben, konnte nicht verhindern, dass es Menschen gab und gibt, die immer noch mit allen Mitteln verhindern wollen, was wir längst sind und auch für alle Zukunft sein werden: ein Land der Integration, ein multikulturelles Land, ein Land der Freiheit, der Rechtsstaatlichkeit und der Demokratie. Aber wir sind auch ein Land, das mit aller Entschiedenheit denen entgegentreten muss, die die Werte unserer Verfassung mit Füßen treten, die die Prinzipien unsere Demokratie mit Gewalt bekämpfen. Unsere Ablehnung muss aber auch denen gelten, die als vorgebliche Demokraten lautstark demokratische Rechte, Menschenwürde und Toleranz für sich beanspruchen, in Wahrheit aber lieber heute als morgen rechtsstaatliche Prinzipien für Menschen anderer Herkunft außer Kraft setzen würden. Und wir reichen auch denen nicht die Hand, die unter dem Deckmantel der Meinungsfreiheit glauben, sich jede Verhöhnung von Menschen anderen Glaubens und anderer Überzeugungen erlauben zu können und zudem versuchen, jeden Bau von nicht-christlichen Gebetsstätten bis aufs äußerste zu bekämpfen.

Die Menschen in Solingen sind vor 20 Jahren aufgestanden, um Zeichen gegen Rassismus und Gewalt zu setzen, aber auch um Zeichen der Versöhnung in unser Land zu schicken.
Menschen deutscher und nicht-deutscher Herkunft zeigen seitdem immer wieder Einigkeit in ihrem Bestreben nach einem friedlichen Miteinander und nach einer ehrlichen Integration.

Einigkeit ist auch das erste Wort unsere Nationalhymne, die dazu in ihrem Text von Hoffmann von Fallersleben auf das Recht und die Freiheit abhebt. „Einigkeit und Recht Freiheit sind des Glückes Unterpfand“ heißt es sehr treffend und durchaus auch unsere heutige Situation beschreibend. In einem Land, das sich nicht durch Einigkeit, durch Recht und durch Freiheit auszeichnete, würde es den Menschen auf Dauer auch nicht gelingen, glücklich leben zu können, unangetastet durch das Leben zu gehen.

Es muss Einigkeit in unserem Land und auch in unserer Stadt darin bestehen, dass nur gemeinsam die Menschen unterschiedlicher Herkunft, verschiedener Religionen und politischen Überzeugungen in einem Klima von Toleranz und respektvollem Umgang, Freiheit erleben und empfinden können.

Es muss Einigkeit bestehen in unserer Ablehnung gegenüber Rassenhass, Gewalt und Fremdenfeindlichkeit.

Es muss für alle wirklich demokratischen Kräfte das Recht und die Unabhängigkeit des Rechtes ein unantastbares Gut sein.

Es muss Einigkeit darin bestehen, dass für alle Menschen, die hier leben und wohnen, die gleichen Rechte und Pflichten gelten, unabhängig davon, ob sie deutscher Herkunft sind oder einen Migrationshintergrund haben.

Es muss Einigkeit darin bestehen, dass Recht und Freiheit Güter sind, für die es sich einzutreten lohnt und die wir uns auch von niemandem mehr nehmen lassen.

Erst wer das Recht, das er für sich Anspruch nimmt, auch anderen zugesteht, kann wirklich nachempfinden, was Freiheit am Ende bedeutet.

Es gilt, gemeinsam aufzustehen und zu zeigen, dass Einigkeit und Recht und Freiheit es wert sind, aufeinander zuzugehen, einander zuzuhören, voneinander zu lernen und die Zukunft miteinander zu gestalten. Und es gilt, diesen Grundsatz gemeinsam all jenen deutlich zu sagen und zu zeigen, die diese Werte in Frage stellen. Erst recht darf für sie in unserer Mitte kein Platz mehr sein, wenn sie unsere gemeinsamen Werte mit menschenverachtender Gewalt bekämpfen.

In Solingen ist vor zwanzig Jahren eine Stadt aufgestanden und hat angesichts der schrecklichen Ereignisse deutliche Zeichen gegen Fremdenfeindlichkeit gezeigt, allen voran auch die Familie Genc. Wir sollten uns alle wie in Solingen auch dafür einsetzen, niemals wegzusehen, wenn jemand ausgegrenzt wird. Wir sollten unseren Kindern und Enkeln frühzeitig vermitteln, dass man Menschen unabhängig von ihrer Herkunft nicht mit Hass gegenübertreten darf, sondern mit Offenheit, Hilfsbereitschaft, Neugierde und Interesse. Nur so lässt sich Freiheit wirklich leben und erleben.

Wie sehr die Grundgedanken unserer Nationalhymne im Grunde gelebt werden können, hat die Mutter, Großmutter und Tante der Opfer von Solingen eindrucksvoll bis heute immer wieder unter Beweis gestellt.

Sie musste aufs grausamste und schmerzhafteste erleben, wie das persönliche Glück einer Familie, die hier eine neue Heimat gefunden hatte, brutal zerstört wurde. Sie verlor Töchter und Enkelkinder, zwei junge Frauen und drei Kinder. Vierzehn Familienmitglieder wurden zum Teil schwer verletzt und leiden bis heute unter den Folgen des Anschlags von Neonazis. Dennoch ist sie sich bis heute einig mit uns, in dem Bestreben, nach Toleranz und Respekt.

Vor 10 Jahren hat Mevlüde Genc, inzwischen Trägerin des Bundesverdienstkreuzes, die mit ihrer Familie nach wie vor in Solingen lebt und immer wieder Zeichen der Versöhnung sendet, folgendes gesagt, ich zitiere:“ Ich habe fünf meiner Blumen verloren, niemand soll diese Erfahrung je machen müssen. Wir sind doch alle Menschen dieser Erde, wir sollten liebevoll zueinander sein, sollten Respekt voreinander haben.“

Dem ist nichts hinzuzufügen."


Anschriften aus dem Artikel: Alte Landstr 129, Albert-Einstein-Str 58

Kategorie: Politik
Bisherige Besucher auf dieser Seite: 2.506

Meldungen Blättern iMeldungen Blättern

Weitere Nachrichten der Quelle "Stadtverwaltung"

Weitere Meldungen