Politik

Tiefschlag aus Frankfurt

Rechtschreibreform vor dem Aus?

Der große Knall zum 1. August begeisterte fast alle, die sich mit Sprache und Schrift befassen: Die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" (FAZ), neben der "Süddeutschen Zeitung" das angesehenste Blatt in Deutschland, kehrte zu den Regeln der "alten" Rechtschreibung zurück. Ein mutiger und auch aufwendiger Schritt, muß die FAZ doch in Zukunft alle Agenturmeldungen in die "alte" Rechtschreibung übertragen. Vermutlich ist dies ein Grund, warum bisher keine weiteren Blätter folgten.

Grass und FAZ Seit' an Seit'

Doch die reformierte Schreibung hatte den Leidensdruck in Frankfurt wohl so erhöht, daß man Nachteile in Kauf nahm. Und die Reaktion der Leser war überwältigend. Die fast ausschließlich zustimmenden Leserbriefe mußten auf zwei Sonderseiten zusammengefaßt werden, um auch nur einen Bruchteil der euphorischen Reaktion abzubilden. Ein Leser schrieb sogar, es sei für ihn die beste Nachricht seit der Wiedervereinigung gewesen. Die Kritik an der Reform richtet sich vor allem gegen
  • die oft verwirrende Getrenntschreibung ("sitzen bleiben"), der wohl am stärksten kritisierte Punkt;
  • die Groß- und Kleinschreibung mit manchmal sogar grammatikalisch falschen Ergebnissen ("es tut mir Leid");
  • bis zur Unkenntlichkeit liberalisierte Kommaregeln, die die Lesbarkeit behindern;
  • liberalisierte Trennregeln ("A-bend"), die der neue Duden erlaubt, vor denen er aber gleichzeitig warnt (!);
  • häßliche Buchstabenklumpen wie "Schifffahrt";
  • pseudoprogressive Eindeutschung von Wortstämmen ("Tollpatsch", "Quäntchen").
Selbst Günter Grass kämpft dieses eine Mal mit der FAZ auf derselben Seite. "Die FAZ darf den größten Unsinn über mich schreiben, wenn sie es nur in der alten Rechtschreibung tut", so der von der FAZ oft gerupfte Nobelpreisträger. Neben ihm bekämpfen auch die meisten anderen namhaften deutschsprachigen Autoren die Reform. Die meisten werden von ihren Verlagen auch weiterhin in der konventionellen Rechtschreibung gedruckt. Ohnehin ist die Rechtschreibreform im Verlagswesen noch nicht weit gekommen.


Viele neue Rechtschreibungen

Ergebnis der Reform ist eine Vielfalt von Rechtschreibungen. Wegen der katastrophalen Qualität der amtlichen Regeln gibt es viele Auslegungsmöglichkeiten (weswegen sich der neue Duden von seinem Vorgänger massiv unterscheidet, ebenso aber auch vom Bertelsmann-Wörterbuch), und die meisten schreibenden Bürger haben die Reform keineswegs verinnerlicht.
Ein schönes Beispiel für eine "eigene" Rechtschreibung bietet die hochangesehene (nicht: hoch angesehene!) "Neue Zürcher Zeitung". Das Schweizer Qualitätsblatt hat im Internet (www.nzz.ch) die "Hausregeln" veröffentlicht. Das Ergebnis ist eine Mischung aus alter und neuer Schreibung mit Präferenz für die alte. Zitat NZZ:
Man ist im Hause NZZ der Auffassung, dass zwar einige Änderungen durchaus wünschbar sind, andere hingegen nicht nur der Tradition, sondern auch der Logik des Sprachverstands klar widersprechen. Deshalb hat sich die NZZ schon früh dazu entschieden, von Fall zu Fall ihre eigenen Wege zu gehen. Dies gilt zumal für die Getrennt- und Zusammenschreibung, wo im Übermut des Einheitsstrebens eine Fülle von wechselnden Bedeutungen preisgegeben wird; es gilt bei den neuen Kommaregeln, die der komplexen Struktur eines deutschen Satzes nicht mehr gerecht werden können; und bei den Worttrennungen, die nach neu geltender Ordnung zu manchen abenteuerlichen Gebilden führen dürften.
So wird schweizerisch-nüchtern eine Reform intellektuell zu Grabe getragen, die nirgendwo in einem Parlament beschlossen wurde. Eine Reform, die schon deswegen verfehlt war, weil ihr Objekt, eine sich dauernd weiterentwickelnde Sprache, sich Bürokraten-Pfuschereien entzieht. Das Ergebnis ist folglich ein Fiasko.
Leider wird die FAZ vermutlich ohne viele Nachfolger bleiben. Zwar dürften viele Zeitungsredakteure und Verleger mit der FAZ sympathisieren, doch sprechen wirtschaftliche Gründe gegen ein Ausscheren aus dem Reformtreck. Nicht jedes Blatt kann es sich leisten, wie die FAZ alles umzuschreiben; und die Agenturen werden nur dann reagieren, wenn ihre Kunden es massiv verlangen. Die Bequemlichkeit aller Beteiligten wird vermutlich siegen. Es sei denn, die FAZ könnte durch ihre Aktion viele neue Leser gewinnen - das bleibt abzuwarten. (Wobei die FAZ-Macher diesen Aspekt sicher auch im Hinterkopf hatten.)
Ähnlich sieht es an der politischen Front aus. Die Kultusminister können schlecht eine Reform zurückziehen, für die sie bereits so viel politisches Prestige investiert haben. Totschlagsargumente wie "Unsere armen Kinder müssen dann wieder umlernen" sind natürlich Blödsinn (warum sollte das Umlernen von Neu in Alt schwieriger sein als umgekehrt, besonders da immer noch 99,9% aller Bücher in alter Schreibung verfaßt sind?), werden aber ihre Wirkung zeigen. Trägheit ist mächtiger als alle guten Argumente.
Was tun? Am Bildschirm am besten folgendes: Man wähle z.B. in Word "Extras->
Optionen->Rechtschreibung und Grammatik" und deaktiviere "Neue deutsche Rechtschreibung". Ganz einfach.